„Mensch wie wäre es, wenn das ganze Studium ökologisch wäre“, „Ach, drifte mal nicht in die Utopie ab, es wär ja schon etwas, wenn wir wenigstens den Schwerpunkt Ökologischer Landbau endlich bekommen würden“. So fabulierten wir 1988 in der studentischen Arbeitsgruppe zur Einrichtung des Schwerpunkts Ökologischer Landbau. Ich hatte gerade angefangen in Witzenhausen zu studieren, im damaligen Diplomstudiengang Agrarwirtschaft. Den internationalen Schwerpunkt hatte ich gewählt, weil ich mein einjähriges Vorpraktikum in Finnland absolviert hatte. Obwohl der Studiengang hauptsächlich in Richtung Tropen orientiert war, war ich mit meiner nordischen Ausrichtung gar nicht so alleine. So reiste unserer feuriger Tierarzt und Anatomieprofessor Dr. Boehncke in den 90er Jahren mehrmals nach Finnland.
Sein Ansatz, Tierwohl bei der Tierproduktion in den Vordergrund zu stellen, wurde dort sehr offen aufgenommen und vieles direkt umgesetzt. Es ist wohl zum Teil Professor Boehncke zu verdanken, dass in Finnland weder die Schwänze von Schweinen, noch die Schnäbel von Hühner seit Jahrzehnten nicht in großen Massen kupiert werden und dies auch nicht als Problem angesehen wird. Auch in die Rindviehhaltung haben Prof. Boehnckes Impulse tief gewirkt: Die Fütterung ist weiterhin grasbasiert, das Platzangebot großzügig, man ist bemüht Weidegang auch bei der Umstellung auf Laufställe zu integrieren, der Antibiotikaeinsatz ist gering.
Statt Öko-Studium soziale Experimente
Unabhängig davon, dass der Beginn des Schwerpunkts Ökologischer Landbau Jahr für Jahr in die Zukunft vertagt wurde, war die Stimmung am Standort Witzenhausen sehr dynamisch. Was es nicht fertig gibt, das müssen wir halt ausprobieren war die Divise, die für weit mehr galt als das Studium. So haben wir Krabbelgruppen gegründet und - als logische Konsequenz - Kleinkindkindergartengruppen. Die WG als neue Form des Zusammenlebens entdeckt, und gemeinschaftlich wirkende Unternehmensformen gesucht. Auch wenn ich 1991 das Studium abbrach, um nach Finnland zu ziehen, so hat mich sowohl das Studium in Witzenhausen als auch das, was neben dem Studium lief, tief geprägt. Mit nahm ich das Wissen, dass in Witzenhausen mit viel Elan eine ökologische Lebensmittelproduktion erforscht und ausprobiert wird sowie die Erfahrung, dass alles, was die Welt für eine faire und gesunde Lebensweise braucht, vor Ort von ein paar gleichgesinnten Menschen gestaltet werden kann.
Weiter in Finnland
Nach dem Abschluss des Studiums zum Agraringenieur in Finnland – diesmal mit dem Schwerpunkt Beratung – habe ich viele Jahre als freie Beraterin und Agrarjournalistin gearbeitet. Dank der Erfahrungen aus Witzenhausen konnte ich viele Entwicklungsprozesse für einzelne Betriebe und die gesamte Branche wie ein Enzym beschleunigen. Neben der Uni und ihrem Wissen halfen mir das, was in Witzenhausen ständig auch entsteht: Verbände, Initiativen, Unternehmen, die großzügig bereit sind, ihr Wissen zu teilen. Manchmal war es ein Telefongespräch oder eine E-mail, manchmal ein Produkt. Die Besuche des Witzenhäuser Biogasberaters Klaus Anduschus halfen mit, in Finnland Biogas neu zu denken und kleine Biogasanlagen auf Hofgröße in schweren klimatischen Bedingungen auszuprobieren. Ein Wendepunkt für die Interpretation der finnischen Auslegung der EU-Hygieneverordnung war ein Seminar, das ich mithilfe des Verbands der Landwirte mit handwerklicher Fleischverarbeitung in Witzenhausen für eine Gruppe finnischer Landwirte, Veterinäre und eines Vertreter des finnischen Landwirtschaftsministeriums 2012 organisierte. Nach den fundierten Beiträgen von Hans-Jürgen Müller und Andrea Fink-Kessler und den Betriebsbesuchen auf kleinen Schlachtereien in der Gegend wurde der Interpretationsspielraum in Finnland mehr im Interesse der kleinen Betriebe gestaltet.
Das Seminar war auch ein Wendepunkt für mich. Die paar Tage, voll dem besonderen Flair von Witzenhausen ausgesetzt, ließen mich lange nicht los und eine Stimme in mir fragte: Wann, wenn nicht jetzt?
Zurück im Öko-Studium
Im April 2013 fand ich mich wieder in den Vorlesungen des schon vor vielen Jahren etablierten Studienganges Ökologische Landwirtschaft. Es sollte nur eine kleine Auszeit zur Auffrischung sein, aber ich saß wochenlang zwölf Stunden täglich in den Vorlesungen und sog die wahrgewordene Utopie von damals wie ein trockener Schwamm in mich auf. Es war kein bisschen anstrengend, im Gegenteil. Ich war wie ein verdurstender Reisender in der Wüste auf einer Oase angekommen und labte mich. An was? So genau weiß ich es nicht. Es war eine mystische Erfahrung. Sicher gehörten Wissen, die Stimmung, die Möglichkeiten dazu.
Kurz bevor ich den Bachelor Ökologische Landwirtschaft 2016 abgeschlossen hatte, wurde ich 50. In mir die altersgerechte Frage nach dem was fehlt? Kurz danach wurde ich wach und da war sie: die Vision von „Wenn Kühe reden würden“, -einer Fotoausstellung die Brücken schlägt zwischen Kühen und Menschen. Wahrgemacht wurde sie durch ein Leaderprojekt und eine wundersame Kooperation mit dem Verband der landwirtschaftlichen Produzenten der Region Südwest-Finnland. Mittlerweile toure ich nun - wieder freiberuflich - mit der Ausstellung durch Finnland und Europa. Trotz Corona hatten wir 2020 über 40 000 Besucher, 2021 über 10 000. Für 2022 und auch 2023 sind schon spannende Projekte geplant, was, darüber schrieb ich dann später.
P.S. Dieser Blockartikel erschien leicht verändert in der Jubileumsschrift der Universität Kassel: 40 Jahre Studium und Berufsfeld Ökologische Landwirtschaft